MorgenGrauen?

Einige Behauptungen zum gesellschaftlichen Niedergang und zu möglichen Auswegen

von Lorenz

1.
Ceterum censeo: Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus führt zu seinem Ende. Dass es uns dann besser geht, bedeutet das allerdings nicht. Das Kapital verliert jedenfalls mit der abnehmenden produktiven Arbeit seine Substanz. Es wird fiktiv. Kapitalismus ist eine Glaubensgemeinschaft geworden, die am geringsten Zweifel seiner Priester zerbrechen kann. Die Argumente dafür sind in den Streifzüge-Heften und auf der Website in nicht wenigen Artikeln nachlesbar.
Die Kraft des Kapitals, die Menschen in sein Verhältnis einzuschließen, nimmt ab. Für kapitalistische Produktion, deren Verwaltung, Sicherheit und Infrastruktur werden immer weniger Arbeitskräfte gebraucht. Die Zahl der prekär arbeitenden und lebenden Menschen wächst. Viele werden überhaupt ins Abseits gedrängt.
Vor allem aber: Auf dem Planeten schreitet an jedem weiteren Tag dieser Wirtschafts- und Lebensweise die Zerstörung der Ressourcen der Menschen und für alles mit ihnen verwandte Leben fort.
Diese Situation hat sich schon vor vier Jahrzehnten abgezeichnet, es war aber noch gut ein Jahrzehnt lang fast unsagbar. Heute gibt es durch die Erosion der Fundamente der herrschenden Ordnung ein verbreitetes „Gefühl“, dass es mit dem Kapitalismus zu Ende gehen könnte. Und was dann? Ratlosigkeit!? Was ist mit der Erkenntnis dann gewonnen für einen Ausweg zu einem „guten Leben für alle Menschen“?

2.
Das Wanken der Grundfesten unserer Gesellschaftsform hat tatsächlich die Praxis jeder verunsicherten Herrschaftsordnung ungemein verstärkt: die rohe Gewalt, die wütende Affirmation des Bestehenden, die Konkurrenz jeder gegen jede und auch das Buckeln nach oben und Treten nach unten. Und wo eins die Wahl hat, werden von der blinden, gebündelten Frustration über den und von der Angst vor dem gesellschaftlichen Niedergang offen gewaltbereite Leute an die Staatsmacht gespült, die „aufzuräumen“ versprechen. Der Erfolg einer solchen Type in den USA, im Land der Vormacht des globalen Kapitals, wird in den Ländern des Gefolges Schule machen. Und die ratlosen Politiker des alten Establishments – die mit den erträglicheren Manieren – sind schon dabei, noch auf den abgefahrenen Zug zu springen, um sich bis zur nächsten Wahl vielleicht zu retten. Die aus anderen Ländern vor Perspektivlosigkeit und Krieg „Davongelaufenen“, die auf dem Arbeitsmarkt „Übriggebliebenen“, die „Obezahrer“, die „in der sozialen Hängematte“, die „Trittbrettfahrer“, die Bettler, Sandler und die „Durchgedrehten“, die das Straßenbild „verunzieren“, die sind zu opfern, wenn möglich auszusperren, abzuschieben, der Obdachlosigkeit, sogar dem Hunger preiszugeben. Und der eine oder andere Korrupte ein paar Etagen höher kommt vielleicht auch noch irgendwie dran. Alle diese Menschen werden den Zombies, zu denen unsere Lebensweise mit ihrer Kälte, ihrem Stress und Schrecken und ihrer Öde immer mehr Menschen macht, zum Fraß vorgeworfen, damit es irgendwie noch weitergeht.
Aber was weitergeht, ist bloß die Zerrüttung. Der vom globalen Zentrum zum Teil selbst gezüchtete Terrror zieht ebenso eine blutige Spur durch die Welt wie der Krieg gegen ihn und auch der gegen ausgewählte Diktatoren und die Stellvertreter gegnerischer Bündnisse und Mächte. Die Lebensbedingungen werden so, wie man es befürchtet. Es wird sozial noch viel kälter werden, als es eh schon ist. Wer sich da noch in Beschaulichkeit, Wegschauen, guten Werken und ein wenig Wohlstand abseits halten konnte und auf seinen Stimmzettel für die Gemäßigten in der Regierung hoffte, wird unsanft aufgeweckt.
Wenn das globale Finanzsystem über kurz oder lang unhaltbar wird und damit die internationalen Zahlungsansprüche illusorisch werden, dann zählt, worauf man physisch Zugriff hat, sonst nichts. Es ist unwahrscheinlich, dass die wieder sprunghaft steigenden Rüstungsanstrengungen der mächtigen Staaten nicht auch dieses Szenario als Grundlage haben. Der Niedergang des globalisierten Kapitalsystems leitet damit auch – ob bewusst oder nicht – den Kampf um die Herausbildung einer neuen, wieder stärker fragmentierten Herrschaft ein.
Der kapitalistische homo oeconomicus ist ja nur eine der realen Gestalten, die Menschsein in einer herrschaftlichen Ordnung annehmen kann. Wir alle haben in einem tief gestaffelten System von Imperativen zu leben gelernt. Und es ist keineswegs unmöglich, dass abgewandelte Imperative schließlich eine neue Unterart von Hobbes’schen Wölfen züchten werden, die in einem umgeformten „Spektakel“ ihre Zähne gegeneinander fletschen. Die kapitalistischen Kategorien wie Arbeit, Geld, Recht und Staat sind wahrscheinlich auch in postkapitalistische Zustände transformierbar. Jenseits von Wachstum und Verwertung bleibt immer noch die Kontrolle des „access“ zu allem, was das Leben braucht, als Quelle gesellschaftlicher Dominanz.
Konsumtrottelei lässt sich auch mit „steady state“ und geringerem stofflichem Verbrauch realisieren. Rassismus, Ethnizismus und Sexismus können sich keineswegs nur mit Kapitalismus amalgamieren. Und die Aussperrung der Flüchtlinge, ja eine systematische Apartheid gegenüber der gescheiterten „Entwicklung“ des größten Teils der Welt passt durchaus auch zu einem Szenario eines Umgangs mit überflüssigen Menschen in einer postkapitalistischen herrschaftlichen Zukunft. Literarisch hat Jean-Christophe Rufin schon vor einem Dutzend Jahren in seinem dystopischen Roman „Globalia“ eine solche darzustellen versucht, in der durchaus auch einiges, was heute als fortschrittlich und „zukunftweisend“ gilt, in eine/r neue/n Unterdrückung „aufgehoben“ ist.

3.
Der Rohstoff der Entwicklung herrschaftlicher Strukturen stammt ironischerweise nicht zuletzt aus dem Widerstand gegen Unterdrückung und aus den Bemühungen um Alternativen. Das zeigt auch die jüngste Binnengeschichte des Kapitalismus selbst und ist wohl auch auf einen Herrschaftswechsel übertragbar. Was ist z.B. aus der antiautoritären Bewegung der 68er geworden? – Die Regulierung der „Willkür“ des Unterrichts (im Guten wie im Bösen) durch Gesetze und Erlässe, das neoliberale „schlanke Management“ und die unternehmerische Mitverantwortung jedes „Mitarbeiters“ für den Erfolg „seines“ Betriebs. Die Kritik an und der Angriff auf bestimmte Facetten einer Herrschaftsform wie auch auf Herrschaft überhaupt verändert mit ziemlicher Sicherheit die Form, aber nicht unbedingt den Inhalt. Der Angriffspunkt, an dem sich Unmut und Widerstand entzünden mögen, ist partikulär, der Angriff mag „siegreich“ sein, aber die „Sieger“ sind assimilierbar an den höheren Zweck, der im Schatten bleibt und an den sie dann nicht mehr denken mögen. Verwertung z.B. geht – wenn man „ein paar Dinge“ und viele Menschen ausblendet – auch antiautoritär. Aber eine gut kooperierende „Betriebsgemeinschaft“ mit viel Erfolg und „gutem Klima“ ist nebenbei auch der Ruin des „Mitbewerbers“.
Für einen Weg aus diesem Dilemma kann theoretische Anstrengung hilfreich sein. Es braucht Überlegungen und Untersuchungen, um die bewegte und schillernde Oberfläche von der beharrlichen Tiefenstruktur der herrschenden Ordnung zu unterscheiden. Analysen aber auch, die klar machen, wie sich diese Grundlagen in der Stellung und im Verhalten der Menschen zueinander abbilden, wie sie in den Köpfen und Herzen der Menschen selbst sitzen und wie damit umzugehen ist, wenn eins sich davon befreien will. Erkenntnisse übrigens, die auch von der Lebenspraxis der Theoretiker selbst sehr erschwert werden können.
Ein Hauptproblem bei alledem ist die Gewalt: Wie bewegen wir uns in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz und Kampf beruht, in der die vorhandenen Strukturen und Institutionen zu einem großen Teil auf vergangener Gewalt fußen und in der es in allen sozialen Fragen um Sieg und Niederlage geht? Sind Sieg und Niederlage nicht das konstituierende Ereignis von Herr- und Knechtschaft? Formatieren Sieg und Niederlage nicht als gelungene oder gescheiterte „Selbstbehauptung“ auch unser ganz individuelles Denken, Tun und Fühlen, was uns doch für ein Zusammenleben in Zuneigung und Anerkennung ungeeignet macht? Und drohen nicht umgekehrt Rücksicht und Empathie uns wehrlos zu machen gegen die Gewalt der Herrschaft. Welche Quantitäten schlagen hier um in welche Qualität? Es ist herauszufinden, wie wir solche Widersprüche, in die das Leben uns verstrickt, nicht zum Lobpreis von Kampf und Heldentum auflösen, hinter dem Herrschaft und Unterdrückung sich verbirgt und den Weg zu einem guten Leben in Frieden mit unseresgleichen und allem Leben uns verstellt.

4.
Mit den herrschenden Verhältnissen weder Sinn noch Hoffnung mehr zu verbinden, kann uns jedenfalls die Sicht auf eine andere, eine lebensfreundliche Welt öffnen. Es macht empfänglich für Gedanken und für praktische Versuche, ein „gutes Leben für alle“ zu erreichen. Wo Herrschaftssysteme abgelöst wurden, waren Menschen am Werk, die aus ihrer zugewiesenen sozialen Stellung ausgebrochen sind, die in der Krise der alten Verhältnisse die Chance von neuen erkannt und genützt haben. Jedes Mal haben Menschen dabei die Freiheit von Unterdrückung für alle aufs Tapet gebracht. Für eine neue Herrschaft mussten sie erst niedergerungen werden. Das ist bis jetzt gelungen, Schicksal aber ist das nicht.
Am Anfang eines solchen Übergangs leben wohl auch wir. Das alte System der Geldvermehrung zersetzt sich in Unsicherheit und Fiktion, löst sich schon an vielen Orten auf in Brachialgewalt, wird sogar in seinen Zentren schon in Frage gestellt. Eine neue Herrschaftsordnung ist noch keineswegs formiert, Freiheit und „gutes Leben für alle“ kommt wieder aufs Tapet. Und es soll festgehalten werden: der Ausgang ist am Eingang ungewiss.
Im weitaus größten Teil der Welt weiß wohl ein großer Teil der Menschen: Im Kapitalismus ist für sie der Platz nur noch am Abgrund. Ihre Verbindung zur herrschenden Ordnung ist oft nur noch deren Schmelzen in die Gewalt von religiös verbrämten Warlords, von Mafiabanden und dergleichen. Und doch agieren in Stadt und Land auf Subsistenz in Selbstbestimmung ausgerichtete „Weiberwirtschaften“. Und generell wäre wohl ein weit größerer Teil der Menschheit von Hunger und Not betroffen, gäbe es nicht diesen vielfältigen, widerständigen und kreativen „Charme des Informellen“. Es ist nicht einfach nur Notbehelf, es ist auch Widerstand und hat in sich die Keime eines guten Lebens. Und vielerorts sind trotz aller Bedrängnis noch Erfahrungen lebendig von Zeiten und Kulturen, wo Geld, Arbeit, Recht und Staat noch nicht das Leben total durchtränkt hatten. Das hilft dabei, die Chance der Freiheit offen, das „gute Leben für alle“ denk- und machbar zu halten.
Es gibt auch hier in den Ländern des Zentrums kapitalistischer Lebens- und Wirtschaftsweise Dinge, die uns hoffen lassen. Sie bleiben meist lange in den Rastern der systemkonformen Wahrnehmung als Marginalien unbeachtet. Die an vielen Orten der Gesellschaft auftauchende „Solidarische Ökonomie“ zum Beispiel kann sich zu einer um Gemeinschaften zentrierte Versorgung für alle entwickeln, wenn sie auf dem Weg von einer „alternativen Vermarktung“ zu einer Alternative zu Vermarktung und staatlicher Verwaltung nicht stehen bleibt. Dazu gehört vor allem die CSA („Community Supported Agriculture“, deutsch oft SoLawi-Solidarische Landwirtschaft genannt), die einige Hunderttausend Menschen in Europa involviert. In ihrer Charta steht, dass „Essen ein Gemeingut, keine Ware ist“. Diese Auffassung teilt sie mit der Bewegung für Ernährungssouveränität, die sich in achtzig Ländern, vor allem auf dem Trikont, zusammen mit Via Campesina rührt. Eine Logik der Versorgung statt der Verwertung nicht bloß in Familien, sondern als Kooperation in Nachbarschaften, als Verabredung in Netzwerken von Menschen, die einander kennen(lernen), wird hier gedacht und in Keimen praktiziert. Nachbarschaftshilfe für den Alltag organisiert sich auch in großen Städten, überschreitet die „Stiege“ und das Haus. Die zerstörerischen Illusionen von Wachstum und blindem technischen Fortschritt haben in diesen und vielen weiteren Projekten, Versuchen, Treffen keine Strahlkraft mehr. Diskurse um Commons und Degrowth entwickeln sich, treten aus ihren Nischen.
Neue Praxis ist ambivalent. Sie kann von (alten und neuen) Herrschaftsordnungen eingesogen und „verdaut“ werden, sie kann aber auch der Ausgangspunkt eines, es sei nochmals so genannt: guten Lebens für alle werden. Es gibt also Bedarf und reichlich auch Gelegenheit, wo Leute, die von einer solchen „anderen Welt“ mitteil- und argumentierbare Vorstellungen hegen, etwas zum Sagen und zum Mittun haben. – Und hier ist noch sehr viel auszuführen. In Worten und in Taten.

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